Das Luther-Jahr 2017 - ein Jahresrückblick
Mit dem Jahr 2017 geht nicht nur das Lutherjahr zu Ende, sondern auch die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ausgerufene
Lutherdekade, letzten Endes eine gigantische PR-Aktion der evangelischen Kirche, die rund eine
Viertelmilliarde Euro
an Steuergeldern verschlungen hat.
Blickt man auf die demografische Entwicklung, erscheint der Handlungsbedarf aus Sicht der EKD durchaus nachvollziehbar:
Waren 1970 noch 47,7 Prozent
der Deutschen Protestanten, so ist diese Zahl bis zum Jahr 2016 auf
26,5 Prozent
geschrumpft.
Allerdings darf man mit Recht bezweifeln, dass die Lutherdekade an dieser seit Jahrzehnten zu beobachtenden Tendenz irgendetwas
geändert hat, denn egal ob Kirchentage, Gottesdienste, Ausstellungen - die Besucherzahlen blieben allesamt weit hinter den
Erwartungen zurück, der erhoffte Luthereffekt blieb aus. Die Frankfurter Allgemeine titelte passend
"Luther ist die Pleite des Jahres".
Ein Erfolg war das Lutherjahr allein für den Spielzeughersteller Playmobil, dessen Lutherfigur unerwartet alle
Verkaufsrekorde brach.
Aber abgesehen von der Finanzierung war besonders fragwürdig, wie die EKD die Themen Luther und Reformation präsentiert hat.
Das zeigt sich am deutlichsten anhand der sog. Reformationsbotschafter, eine Form des celebrity marketings, bei der
Prominente mit ihrer Bekanntheit offiziell für das Lutherjahr geworben haben. Einige dieser Botschafter wurden in einem kurzen
Video
gebeten, ihre Assoziationen zum Thema Reformation zu nennen. Die Ergebnisse waren höchst interessant:
Mit den Worten "Trau dich, selber zu denken" rezitierte der v. a. als Wissenschaftskabarettist bekannte Eckhart von
Hirschhausen sinngemäß Immanuel Kants Motto der Aufklärung; der RTL-Moderatorin Frauke Ludowig fiel dazu "vor allem
Aufklärung" ein; "Toleranz" und "die Dinge [...] hinterfragen" nannte die bekannte Nachrichten-Moderatorin Gundula Gause;
und der Regisseur und Produzent Nico Hofmann verband mit der Reformation eine "weltoffene Gesellschaft".
Im ersten Moment fragt man sich, ob man richtig gehört hat: Luther - ein Aufklärer?!?
Solche alternativen Fakten mag man von egomanischen Präsidenten gewohnt sein, aber man ist doch
einigermaßen schockiert, sie von Personen zu hören, die in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit
als durchaus seriös wahrgenommen werden und auf ihre Glaubwürdigkeit angewiesen sind. Und sofern man den
Informationen von Wikipedia trauen darf, hat Gundula Gause sogar Geschichte studiert.
Natürlich können sowohl die EKD als auch die Reformationsbotschafter darauf verweisen, dass es sich hier nur um
freie Assoziationen und persönliche Meinungsäußerung handelt - und eine Meinung darf man ja schließlich haben.
Das ändert aber nichts an der moralischen Fragwürdigkeit des Unterfangens, da sich die evangelische Kirche gezielt
der Prominenz der genannten Personen bedient und wenigstens zulässt, dass diese ein vollkommen anachronistisches
Lutherbild propagieren, das losgelöst vom Bezug zur historischen Realität ist, sich aber mit seinem forciert
zeitgemäßen Anstrich gut vermarkten lässt - Harry Frankfurt bezeichnete genau das als Bullshit. Mein Wunsch aus dem
letzten Jahresrückblick scheint wohl nicht in Erfüllung gegangen zu sein ...
Was hier kolportiert wird, ist letzten Endes nichts anderes als die alte Räuberpistole, die Werte der Aufklärung
seien dem Christentum zu verdanken (und nicht etwa gegen den erbitterten Widerstand der Kirchen erkämpft worden).
Das Ganze wird aber noch dadurch auf die Spitze getrieben, dass alle aufgezählten Errungenschaften auf eine
Person zurückgeführt werden, die zudem noch 200 Jahre vor der Epoche der Aufklärung gelebt hat! Luther - ein Superaufklärer?!?
Dass Luther in Wirklichkeit alles andere als ein Aufklärer war, lässt sich gut am Beispiel der Toleranz zeigen.
Nach Jürgen Habermas ist Toleranz die konstitutive Tugend einer pluralistischen Gesellschaft.
Nicht zuletzt auch um der eigenen Freiheit willen bin ich bereit, etwas zu dulden, das ich selbst
für falsch halte, solange meine Freiheit nicht eingeschränkt wird und solange nicht die pluralistische
Gesellschaft als Basis dieser Freiheit selbst gefährdet ist (genau diese Gefahr besteht nach Karl Popper
nämlich bei der Toleranz der Intoleranz). Das lässt sich auch in der einfachen Formel "gleiches Recht für
alle" zusammenfassen, da ich nur die Freiheit einfordern kann, die ich auch anderen einzuräumen bereit bin.
Und schließlich könnte ich ja bei dem, was mir als vollkommen richtig einleuchtet, auch falsch liegen; es gibt
logisch keinen Weg, diese Möglichkeit auszuschließen. Deshalb ist es sinnvoll, unter den oben genannten
Bedingungen andere Meinungen grundsätzlich zuzulassen und zu diskutieren - das ist der Beitrag, den Voltaires
fallibilistische Toleranzdefinition liefert.
Historisch betrachtet bedeutet Toleranz in erster Linie religiöse Toleranz, bezieht sich also darauf,
wie man mit Anhängern anderer (Welt-)Anschauungen umgeht. Und genau an diesem Punkt wird klar, dass Luther
die Toleranz gegenüber Andersdenkenden völlig fremd war. Das lässt sich schon an der breiten Palette seiner
Feindbilder erahnen: die Täufer in den eigenen reformistischen Reihen, die katholischen Papisten, die muslimischen
"Türken", die Juden und die "Epicureer", die praktisch als Atheisten wahrgenommen wurden.
Am berüchtigtsten sind wohl Luthers Ausfälle gegenüber den Juden. Er verfasste eine ganze Reihe antisemitischer
Schriften, deren bekannteste "Von den Juden und ihren Lügen" aus dem Jahr 1543 ist. Im Vorfeld gab sich die EKD
zwar einsichtsvoll und anerkannte 2015,
dass die fraglichen Schriften des Wittenberger Reformators
in der Tradition
der "Judenfeindschaft"
stünden, man vermied aber systematisch, Luther in Zusammenhang mit dem Begriff "Antisemitismus"
zu nennen, um direkte Assoziationen mit dem Nationalsozialismus zu vermeiden, und beschränkte sich auf die Bezeichnungen
"Antijudaismus" bzw. "Judenfeinschaft". Die Begründung hierfür war, dass Luthers Abneigung religiös und nicht rassisch
motiviert gewesen sei, wie es für den (modernen) Antisemitismus prägend wäre.
Im Folgenden möchte ich stellvertretend für Luthers Judenhass drei Zitate anführen:
Man soll ihre Synagogen anzünden und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufen und überschütten.
Als Judas Iskariot sich erhängt hat, [...] Da waren die Juden und ihre Diener mit goldenen Kannen und silbernen
Schüsseln dabei und haben Judas' Pisse zusammen mit der anderen Reliquie aufgefangen. Sie haben das vermischt,
die Scheiße gefressen und gesoffen.
Das israelitische Blut ist vermischt, unrein, verwässert und verwildert worden. [...] Dieser trübe Bodensatz
und stinkender Abschaum [...] sollte die Erfüllung des Messias verdient haben, aber doch nichts weiter ist als
ein fauler, stinkender, verrotteter Bodensatz vom Blut ihrer Väter?
All das ist O-Ton Luther. Ich überlasse es dem Leser, zu entscheiden, wie sinnvoll die Unterscheidung von Antijudaismus
und Antisemitismus angesichts dieser Worte wirklich ist und ob man eine Person, die Derartiges von sich gibt, ernsthaft
als Aufklärer feiern kann, ohne die Fakten beliebig zu verdrehen und auszublenden. Aber sagen wir so: Wenn Luther einen
Twitter-Account gehabt hätte, wäre er schneller gesperrt worden, als man "Reformation" sagen kann.
Der Historiker Wolfgang Wippermann beurteilt in seinem Buch "Agenten des Bösen" Luthers antijüdische Schmähschriften in ihrem zunehmend schärfer werdenden Ton zusammenfassend folgendermaßen:
"Es gibt keinen Zweifel: Luthers verschwörungsideologisch begründete und auf dem Teufelsglauben basierende Judenfeindschaft hatte einen exterminatorischen Charakter."
Weniger bekannt, aber nicht weniger aussagekräftig ist dagegen Luthers Auseinandersetzung mit den Epikureern,
den Anhängern einer ursprünglich hellenistischen Philosophie, die auf Epikur von Samos zurückgeht und zu Luthers
Lebzeiten eine sagenhafte Renaissance erlebt hat.
Die Epikureer gingen davon aus, dass alles in der Welt aus Atomen besteht, die sich durch das Nichts
(wir dürfen auch sagen: durch das Vakuum des Alls) bewegen und sich zu komplexeren Strukturen verbinden können.
Diese Idee war zu Epikurs Zeit zwar nicht mehr neu, doch Epikur ging es um mehr als bloße Naturphilosophie;
er zog die ethischen Konsequenzen aus dieser Weltsicht. Die bedeutendste ist wohl, dass, wenn alles aus Atomen besteht,
auch der Mensch keine Ausnahme darstellt und sich mit dem Tod die Seele ebenso auflöst wie der Körper. Und das wiederum
hat zur Folge, dass man keine Strafen im Jenseits zu befürchten hat, wie sie im Christentum in Aussicht gestellt wurden,
wie sie beispielsweise aber in Form der Qualen des Tantalos auch für den Menschen der Antike durchaus anschaulich waren.
Außerdem wurde die Rolle der Götter, auch wenn ihre Existenz von Epikur nicht per se geleugnet wurde, so doch marginalisiert,
so dass die Menschen auch im Diesseits keinen göttlichen Groll zu befürchten hatten. Katastrophen wurden als Naturereignisse
betrachtet, nicht als Strafen für menschliche Verfehlungen. Weder vom Tod noch von den Göttern hatte man also etwas zu befürchten.
Was bleibt, ist, sich nach dem epikureischen Ideal der Seelenruhe um ein möglichst angenehmes Leben im Diesseits zu bemühen.
Es gibt zwar analog zu Luthers judenfeindlichen Machwerken keine großen antiepikureischen Schriften -
man muss Luthers Aussagen hierzu beispielsweise in seinen Predigten suchen -, allerdings existiert ein
lateinisches Spottgedicht mit dem Titel "Sarcasmus in Epicuram" ("Spottgedicht gegen Epikur"). Ich zitiere
hier stellvertretend für Luthers Einstellung gegenüber den Epikureern die zweite Hälfte in der Übersetzung von
Gottfried Maron:
Lebe nur so wie die Sau und wie dein Schwein
und endlich verrecke auch als Schwein und als Sau!
Ja, so geht's zu den seligen Inseln,
wo ein Kerker ewigen Feuers glüht
und solche Schweine kocht und brät.
Dann wärst du gern, Epikur, gar nicht gewesen;
doch zu spät kommt alles Wehklagen
und du mußt lernen, daß es noch eine andere
Gottheit gibt als die, die du hier als hohl verlacht hast.
Auch angesichts dieser Zeilen, in denen sich der Autor genüsslich ausmalt, wie Nichtgläubige ewige
Höllenqualen erwarten, überlasse ich das Urteil über Luthers Weltoffenheit und Toleranz dem Leser.
Fakt ist, dass sich Luther auch bei der Verunglimpfung der Epikureer streng genommen nur in einer
alten christlichen Tradition bewegte, welche von den Kirchenvätern begründe worden war. Im Grunde stieß er
hier in dasselbe Horn wie seine katholischen Widersacher. Durch die Abwendung vom traditionellen Teufels-
und Hexenglauben, von Antisemitismus und Antiepikureismus hätte sich Luther gezielt von der katholischen Kirche
distanzieren und tatsächlich aufklärerisch profilieren können, aber er hat in allen Bereichen lediglich die
gängigen Vorurteile aufgegriffen und - zumindest im Falle des Antisemitismus - mit fataler historischer Wirkung
sogar noch verstärkt.
Und hier liegt die Ironie der Geschichte: Man hätte das Jahr 2017 tatsächlich nutzen können, um einen Aufklärer
zu feiern. Denn Epikurs Lehre ist in nur wenigen Briefen, Sentenzen und Fragmenten überliefert worden und wäre zu
Luthers Zeit niemals zu ihrer Blüte gelangt, hätte nicht der italienische Bücherjäger Poggio Bracciolini vor genau
600 Jahren, im Jahr 1417, die umfangreichste epikureische Quelle entdeckt, die man bis heute kennt: Das 7400 Verse
umfassende Lehrgedicht "De rerum natura" ("Vom Wesen der Dinge") des römischen Dichters Lukrez aus dem ersten Jahrhundert
v.u.Z. Erst diese Wiederentdeckung gab den entscheidenden Anstoß dazu, sich wieder mit Epikurs Philosophie zu beschäftigen
und an die Antike anzuknüpfen.
Was hier wieder ans Licht kam, war revolutionär für eine Zeit, die seit 1000 Jahren vom Christentum dominiert wurde,
das keine weltanschauliche Alternative duldete und die Lehre des Aristoteles - oder was die Scholastiker daraus gemacht
hatten - zum bibel- und liturgiekonformen Standardmodell erklärt hatte. Wer dies offen infrage stellte, riskierte als Ketzer
verfolgt, gefoltert, ermordet und seines Vermögens beraubt zu werden. Und so ziemlich jeder Aspekt des Lukrez'schen Werkes
war geeignet, um der Häresie angeklagt zu werden: Es ist protoevolutionär, antikreationistisch, religionskritisch, pazifistisch,
geht schonungslos mit Illusionen ins Gericht und ist doch zugleich wundervoll poetisch. Am bezeichnendsten ist jedoch der
konsequente Naturalismus, also die Sicht, dass es in der Welt "mit rechten Dingen zugeht", wie es der Physiker und Philosoph
Gerhard Vollmer ausdrückt. Das bedeutet, dass weder die Gesetzmäßigkeiten der Natur (inklusive des Menschen) noch die
Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens der Annahme übernatürlicher Wesenheiten bedürfen. Damit unterminierte
der Epikureismus natürlich von vornherein alles, worauf sich der Machtanspruch des Christentums gründete, und lieferte
zugleich die Blaupause für die Entstehung der modernen Naturwissenschaften und die Autonomie der Ethik. Lukrez beschreibt
eine zutiefst aufklärerische Weltsicht, in der Religionen und Esoterik keine Macht über die Menschen haben; Glaube und
Aberglaube sind hier nur zwei Seiten derselben Medaille. Es ist eine Philosophie, die dem Individuum Raum zur
Selbstverwirklichung gibt. Raum dazu, das Leben mit möglichst viel Lust zu füllen, aber stets mit Maß und Ziel,
ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten. Deshalb stehen Seelenruhe und Frieden ganz oben auf der Präferenzliste der Epikureer.
Die Wirkung dieser Wiederentdeckung auf die europäische Wissenschafts- und Geistesgeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts -
entweder durch persönliche Lektüre des Lehrgedichts oder durch Katalysatoren wie Pierre Gassendi - kann kaum hoch genug
veranschlagt werden. Egal ob Philosophie (Montaigne, Spinoza, Diderot, Holbach, Bentham), Malerei (Botticelli), Literatur
(Shakespeare, Molière), politische Theorie (Hobbes), Politik (Thomas Jefferson), Biologie (Maupertuis, Buffon), Chemie
(Boyle, Dalton), Physik (Newton) - überall hinterließ Lukrez seine Spuren. Ironischerweise stellte Lukrez eine solche
Befruchtung der Wissenschaften dar, dass er sehr schnell in die Einzeldisziplinen diffundierte und sein Einfluss
heute fast nur noch für Wissenschaftshistoriker erkennbar ist.
Natürlich erfolgte das Ganze nicht ohne Widerstand. Sowohl Giordano Bruno als auch Galileo Galilei gerieten mit
der katholischen Kirche aneinander - nicht, weil sie intoleranter, sondern schlichtweg weil sie mächtiger war und
versuchte, ihr Deutungsmonopol mit allen Mitteln zu verteidigen. Der Stein des Anstoßes war weniger die Zustimmung
zum heliozentrischen Weltbild, wie die meisten glauben, sondern die Tatsache, dass Bruno und Galilei Vertreter einer
atomistischen Naturphilosophie waren. Wenn Bruno gegen das zentralistische Weltbild der Kirche behauptet, es existierten
unzählige Welten, dann ist dies eins zu eins von Lukrez übernommen. Und in der Tat finden sich die ältesten grafischen
Darstellungen atomarer Strukturen - lange vor dem Bohr'schen Atommodell und Rastertunnelmikroskopen - bei Giordano Bruno.
Lukrez war der Besen, mit dem man den scholastischen Aristotelismus nach und nach auskehrte und so den Weg für
die modernen Naturwissenschaften bereitete. Er markierte den Beginn eines Zeitalters, das zunehmend vom Säkularismus
geprägt war. Diesen Umbruch in der beginnenden Neuzeit nahm Martin Luther zwar wahr, aber progressiv daran beteiligt war
er nicht. Im Gegenteil deutete er diese Entwicklung ganz spätmittelalterlich nicht als Beginn der Neuzeit, sondern als Beginn
der Endzeit.
Interessanterweise fand sich in Luthers Nachlass ein handschriftlicher Zettel, auf dem zu lesen war: "homines futuri, qui
sine Deo viverent", also "die zukünftigen Menschen, die ohne Gott leben". Mit den "homines futuri" waren zweifelsohne die
Epikureer gemeint, und betrachtet man die demografische Entwicklung, muss man sagen, dass Luther am Ende Recht haben könnte.
Historisch hätten wir Lukrez also mehr als genug zu verdanken gehabt, um ihm zum Jubiläum mehr mediale Aufmerksamkeit zu widmen.
Immerhin bedachte ihn die Süddeutsche mit einem Artikel und Klaus Binder lieferte eine neue Übersetzung von
"De rerum natura" für eine "Jubiläumsausgabe".
Aber auch abgesehen vom Beitrag zu unserem unserem aufklärerischen Grundverständnis, das ja sogar bei den
Reformationsbotschaftern zum Ausdruck kommt, wenn auch in grotesker Rückprojektion, hat uns Lukrez noch etwas zu sagen.
Der Naturalismus hat sich in den meisten Bereichen zwar als das Standardprogramm der Wissenschaft durchgesetzt, in Fragen der
Anthropologie und Ethik besteht aber noch einiger Nachholbedarf: Intelligent Design, Sterbehilfe, Gentechnik,
Ehe für alle, Schwangerschaftsabbruch (erinnert sei hier nur an die
Diskussion über den §219!) -
das Bild vom Menschen und der ethische Diskurs werden nach wie vor stark von irrationalen Vorprägungen beeinflusst,
die ihren Ursprung in der langen weltanschaulichen Dominanz des Christentums haben.
Mit der Infragestellung zentraler Glaubensinhalte durch den Naturalismus gehen auch die Kränkungen einher,
die der Mensch im Laufe der Neuzeit erfahren musste. In der Folge musste sich die Naturwissenschaft oft den Vorwurf
gefallen lassen, sie sei kalt und analytisch. Lukrez liefert uns ein Beispiel dafür, wie aus der konsequenten Desillusionierung
eine neue Poetik entsteht. Ein Modell, das leider noch viel zu wenige Nachahmer gefunden hat, damit Wissenschaft und Rationalität
emotional wieder den Anschluss an den Menschen finden.
Und es existiert noch ein weiterer Berührungspunkt: Zur Zeit des Lukrez erlebte der Epikureismus eine erste,
kurze Renaissance in Kreisen der gebildeten römischen Oberschicht. Es war eine politisch äußerst turbulente Zeit,
in der man sich nach Frieden und Ruhe sehnte, wie sie der Epikureismus anstrebte, die Zeit der späten Republik, geprägt
von Bürgerkrieg und Vertrauensverlust in die traditionellen politischen Strukturen und Narrative. Die Loyalität galt zunehmend
nicht mehr dem Staat, sondern Führerfiguren wie Sulla und Caesar. Was folgte, war das Prinzipat, in dem Kaiser mit der
Aura des Göttlichen ihre Idiosynkrasien und Neurosen nach Belieben ausleben konnten. Man muss wohl kein ausgesprochener
Pessimist sein, um darin Parallelen zur gegenwärtigen Situation Europas und anderer Länder in der Welt zu sehen, in denen
man Politikverdrossenheit, Populismus und den Aufstieg selbstherrlicher Autokraten beobachten kann.
Ich hoffe, dass uns politisch glücklichere Zeiten bevorstehen als der Generation des Lukrez und wünsche uns
allen für das Jahr 2018 mehr Aufklärung, mehr Toleranz und vor allem - mehr Seelenruhe!
Ihr
Michael Marquardt
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Zitat
Wahrheit besteht in der Übereinstimmung des Verstandes und der Sache. (Veritas consistit in adaequatione intellectus et rei.)
Thomas von Aquin
(1225-1274)
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