Bullshit-Jahr 2016 - ein Jahresrückblick
2016 wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache "postfaktisch" zum Wort des Jahres. Postfaktisch, so beschreibt es die GfdS, "verweist darauf, dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht."
Nun hat der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt bereits 1986 in einem Essay ein Phänomen beschrieben, das in unmittelbarem Zusammenhang mit dem steht, was wir heute als postfaktisch bezeichnen. Er nannte dieses Phänomen: Bullshit.
Bullshit stellt neben Wahrheit und Lüge eine dritte Kategorie dar und ist vereinfacht gesagt die Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit. Aus diesem Grund hält Frankfurt Bullshit auch für gefährlicher als Lügen, denn der Lügner kennt ja die Wahrheit und orientiert sich an ihr, um zu lügen. Beim Bullshit dagegen fehlt diese Orientierung völlig. Man bewegt sich in einem Raum, in dem es kein wahr oder falsch mehr gibt.
In diesem Sinn kann man Bullshit als postfaktische Strategie verstehen, da ja der Bezug auf die Fakten überhaupt erst die Unterscheidung von wahr oder falsch erlaubt. Und je mehr diese Strategie salonfähig wird, umso eher ist es auch berechtigt, von einem postfaktischen Zeitalter zu sprechen.
Doch während die Definitionen bei Frankfurt eher essayistisch-tentativ und die Gefahren abstrakt bleiben, schreckte das Jahr 2016 nicht davor zurück, uns zahlreiche äußerst konkrete und bedenkliche Beispiele vor Augen zu führen, von denen ich stellvertretend für das gesamte Jahr vier ausgewählt habe.
Bewusst offen lassen möchte ich, ob es 2016 wirklich mehr Bullshit gab als in den Jahren davor, v. a. weil uns diese Frage nicht weiterhilft. Fakt ist, dass 2016 bestimmte Entwicklungen, die ihre Schatten sicher schon einige Zeit vorausgeworfen haben, ins öffentliche Bewusstsein gedrungen sind und dass es Zeit ist, etwas zu ändern, bevor der Schaden noch größer wird. Beispielhaft seien hier nur der Aufstieg des Rechtspopulismus in Deutschland und die Diskussion über "Fake-News" und deren Verbreitung in sozialen Netzwerken genannt. Der "Fake" stellt dabei eine begriffliche Facette dar, deren Bezug zum Bullshit Frankfurt in seinem ursprünglichen Essay auch angerissen hat, die aber vor dem Hintergrund der Ereignisse des vergangenen Jahres noch einmal unterstrichen werden sollte (zumal Frankfurt die Bedeutung von Bullshit als Fälschung im Zusammenhang mit Ezra Pounds Gedicht Canto LXXIV diskutiert hat).
In diesem Sinne möchte ich meinen Rückblick auf das Bullshit-Jahr 2016 beginnen.
Phantom-Flüchtlinge im Januar
Zu Beginn des Jahres machten Gerüchte die Runde, wonach eine 13-Jährige Russlanddeutsche von Flüchtlingen entführt und vergewaltigt worden war. Pegida- und NPD-Anhänger gingen daraufhin gemeinsam mit Russlanddeutschen auf die Straße und brachten ihre Empörung in unangemeldeten Demonstrationen zum Ausdruck. Schützenhilfe erhielten sie dabei vom russischen Außenminister höchstpersönlich, der den deutschen Behörden, die die Vergewaltigung dementierten, Vertuschung vorwarf und den Schulterschluss zwischen deutschen Rechtspopulisten und dem Kreml demonstrierte. Immerhin hatten russische Medien die Vergewaltigung längst aufgegriffen und trugen Hand im Hand mit dem Internet zur Verbreitung der Nachricht bei.
Am Ende stellte sich zum Glück heraus: Es gab keine Entführung, keine Vergewaltigung, keine Vertuschung und vor allem - keine Flüchtlinge. Was es gab, war eine Jugendliche aus sozial nicht ganz unproblematischen Verhältnissen, die nach der Schule nicht nach Hause gekommen war und eine Nacht bei ihrem Freund verbracht hat.
Der Schaden war da aber längst entstanden. Während die Wutbürger dank ihrer Vorurteile gegenüber Migranten sofort auf die Meldung ansprangen und den Volkszorn zur Schau stellten, versuchten politische Kräfte daraus so lange wie möglich Kapital zu schlagen. Sei es, indem sie sich als Ankläger der "Lügenpresse", als Alternative zu Merkels Flüchtlingspolitik oder als Protektor panslawistischer gerierten.
Irgendwann wurde die Faktenlage so erdrückend, dass man doch kleinlaut von der angeblichen Vergewaltigung durch Flüchtlinge Abstand nehmen musste. Fehler hat indes niemand eingeräumt. Auch auf eine Entschuldigung dafür, dass man ernsthafte diplomatische Verstimmungen riskiert und das Vertrauen der Bürger in die Berichterstattung der deutschen Medien und die Zuverlässigkeit der Polizei untergraben hat, konnte man vergebens warten.
Die Vergewaltigung war eine Falschmeldung, aber der Hass, den man in Kauf in genommen und geschürt hat, war real und wird bleiben, bis er bei der nächstbesten Gelegenheit weiter anwächst.
Sanft, natürlich und ganzheitlich sterben im August
Nachdem im Sommer in kurzer Folge drei niederländische Patienten des Biologischen Krebszentrums Bracht gestorben waren, nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen den behandelnden Heilpraktiker auf, um die Umstände der Todesfälle näher zu untersuchen. Die Patienten der alternativmedizinischen Einrichtung wurden dabei mit der Substanz Bromopyruvat behandelt, die in der Alternativmedizin zur Krebsbehandlung eingesetzt wird. Das Präparat ist zwar nicht verboten, aber eben auch nicht als Medikament zugelassen ist, weshalb man weder mögliche Gesundheitsrisiken abschätzen noch sicher sagen kann, ob Bromopyruvat überhaupt gegen Krebs wirkt.
Der tragische Fall hat dazu geführt, dass im deutschen Gesundheitswesen die Frage aufgeworfen wurde, ob alternativmedizinische Therapien ohne nachgewiesene Wirkung überhaupt noch von den Krankenkassen bezahlt werden sollen. Allen voran beträfe das die Homöopathie, die längst selbst zu einem milliardenschweren Zweig der Pharmaindustrie geworden ist.
Der Vertrauensvorschuss, der diesem aus dem 18. Jahrhundert von Samuel Hahnemann stammendem Ansatz von großen Teilen der Bevölkerung entgegengebracht wird, ist enorm. Und das, obwohl nicht nur die behauptete Wirkungsweise der Homöopathie wissenschaftlich unplausibel ist, sondern auch verlässliche Studien zum Wirkungsnachweis trotz jahrzehntelanger Bemühungen nach wie vor auf sich warten lassen. Zwei Indikatoren, die es mehr als zweifelhaft erscheinen lassen, dass ein homöopathisches Medikament besser wirken könnte als ein Placebo. Selbst das deutsche Arzneimittelgesetz stellt an homöopathische Medikamente nur bescheidene Mindestanforderungen hinsichtlich der Unbedenklichkeit der Inhaltsstoffe, ein Nachweis der Wirksamkeit muss nicht erbracht werden. Und trotz allem ist für viele einfach ausgemacht, dass Homöopathie sanft, natürlich und ganzheitlich wirkt und damit ganz im Gegensatz zu dem steht, was der Satan Pharmaindustrie anzubieten hat.
Das führt nicht nur dazu, dass die Gefahren, die mit der Alternativmedizin verbunden sind, völlig unterschätzt werden, weil ihre angeblichen Vorzüge beispielsweise in Boulevardblättern völlig überhöht und einseitig dargestellt werden. Was mich noch mehr beunruhigt, ist die Abwertung, die kritisches Denken auf diesem Gebiet erfährt. Dabei sollte man doch annehmen, dass gerade bei Fragen, die die Gesundheit betreffen, die Sorgfalt und Skepsis besonders groß sind. Tatsache ist aber, dass die meisten Deutschen bei der Pflege ihres Autos mehr Rationalität an den Tag legen als bei der Pflege ihrer Gesundheit.
Wer diese Schilderungen für überzogen hält, der stelle einmal die Wirkung von Homöopathie in einer Runde überzeugter Globuli-Mütter in Frage. Er wird schnell nachempfinden können, wie es Giordano Bruno nach der Leugnung der Trinität erging ...
Neues aus Mazedonien im November
Im Herbst erreichte die Schlammschlacht im amerikanischen Wahlkampf ihren Höhepunkt. Unerwartete Unterstützung erhielt Kandidat Donald Trump dabei aus der kleinen Balkanrepublik Mazedonien. Besonders die Bürger der Stadt Veles scheinen begeisterte Anhänger des exzentrischen Milliardärs zu sein, betreibt die Stadt doch über 100 Pro-Trump-Webseiten. Der Grund dafür ist aber wohl weder in Trumps politischem Programm noch in seinem Charisma zu suchen. Es ist viel einfacher: Man verdient mit seiner Unterstützung Geld.
Der Betreiber einer Website bekommt Geld für die Werbung, die auf seiner Seite erscheint. Für jeden Klick einen bescheidenen Betrag, aber je häufiger die Seite angeklickt wird, umso mehr Geld fließt in die Taschen. Um möglichst viele der begehrten Klicks zu erhalten, muss man etwas veröffentlichen, das möglichst viele Menschen interessiert. Da gute Beiträge entsprechend aufwendig sind, saugt man sich einfach etwas aus den Fingern, das möglichst große Aufmerksamkeit erregt. Und da die Marge aus Bereich makedonische Politik überschaubar bleiben dürfte, kreiert man einfach englische Fake-News der Art "Ungenannte FBI-Quellen sagen: Hillary Clinton wird 2017 aufgrund ihrer Verbrechen in Zusammenhang mit der E-Mail-Affäre angeklagt." Die schnellste Art, diese Fake-News unters Volk zu bringen, ist, per soziale Netzwerke ein virales Lauffeuer zu starten, und schon steigen die Klicks und damit die Einnahmen. Klappe zu, Affe tot. Hillary Clinton musste das am eigenen Leib erfahren.
Aber selbst wenn die Intention gänzlich apolitisch und rein finanzieller Natur gewesen sein sollte und auch die Entscheidung für Trump nur Kalkül war, muss man nicht betonen, dass dringender Handlungsbedarf gegen diese Form von äußerer Einflussnahme besteht, welche die politische Lage völlig verzerrt. Noch gravierender ist die Gefahr, die von anderen Regierungen ausgeht, um auf diese Weise die Wahlen eines Landes von außen zu manipulieren. Wir brauchen dazu nicht mit Finger auf ein bestimmtes Land zu zeigen, um festzustellen, dass die Gefahr allein schon deshalb real ist, weil die Verbreitung von Fake-News so simpel und effektiv ist und sich die Spuren leicht verwischen lassen. Das widerspricht natürlich im höchsten Maße dem, was die ebenfalls 2016 verstorbenen Hildegard Hamm-Brücher als "demokratischen Anstand" bezeichnet hat, aber ich bin sicher, jedem von uns fällt irgendein lupenreiner Demokrat ein, dem dieses Vorgehen zuzutrauen ist.
Die gravierendste Folge ist jedoch, dass dadurch die Rationalität von Entscheidungen, deren Grundlage Fakten als Träger verlässlicher Informationen sind, völlig verlorengeht. Wenn "Fakten" nur noch Emotionen transportieren, dienen sie nur noch dazu, Sympathien oder Antipathien beim Rezipienten auslösen bzw. dessen schon vorhandene Dispositionen verstärken. Unter diesen Vorzeichen wird auch jede Diskussion zwischen unterschiedlichen Parteien zu einer Farce.
Atomkrieg auf Twitter im Dezember
Unmittelbar vor Weihnachten drohte der pakistanische Verteidigungsminister Khawaja Asif Israel auf Twitter mit nuklearer Vernichtung. Dem ging eine Meldung voraus, der zufolge der israelische Verteidigungsminister Moshe Jalon Pakistan mit einem atomaren Angriff gedroht habe, falls es in Syrien zum Einsatz pakistanischer Bodentruppen käme.
Das israelische Verteidigungsministerium hat dann etwas getan, was ihm viele offenbar nicht zutrauen, es hat zur Deeskalation beigetragen und klargestellt, dass Jalon nie etwas Derartiges gesagt hat.
Weder die Tatsache, dass Israel zu besagtem Zeitpunkt bereits seit einem halben Jahr einen neuen Verteidigungsminister hatte noch die Rechtschreibfehler in der Originalmeldung scheinen Asif stutzig gemacht zu haben. Trotzdem erschien ihm die Aggression so plausibel, dass er sich genötigt fühlte, sofort einen Gegenschlag per Twitter zu führen, anstatt zunächst die Verlässlichkeit der Quelle zu prüfen und den diplomatischen Weg einzuschlagen.
Wer auch immer der Verfasser der ursprünglichen Nachricht gewesen sein mag und was immer er bezwecken wollte: Hier eröffnete sich die Möglichkeit, durch Aktivierung zionistischer Stereotype Politiker so zu steuern, dass sie nicht nur den laufenden Entspannungsprozess mit Israel sabotieren, sondern sogar einen Nuklearschlag androhen.
Solange es bei einem Kleinkrieg auf Twitter bleibt, ist ein derartiger Vorfall für einen Politiker höchstens hochnotpeinlich, aber wenn Atomwaffen ins Spiel kommen, hört der Spaß endgültig auf.
Betrachtet man die vier Beispiele mit einiger Distanz, fallen zwei Dinge auf:
Erstens ist das Handeln der Menschen von grundsätzlichen Widersprüchen geprägt, denen fast schon eine tragikomische Ironie innewohnt, die diese Menschen aber selbst nicht erkennen.
So zum Beispiel, dass sich gerade diejenigen am leichtesten von unseriöser Berichterstattung instrumentalisieren lassen, die den unabhängigen Medien am lautesten Lügenpresse entgegenbrüllen. Oder die Tatsache, dass Anhänger der Alternativmedizin eine Hand der Pharmaindustrie brüsk zurückweisen, während sie umso breitwilliger schlucken und zahlen, was die andere ihnen anbietet.
Wer Zuckerkügelchen als Medizin verabreicht, sollte sich auf jeden Fall bedeckt halten, wenn es darum geht, die Wirksamkeit von Regentänzen zu beurteilen - das ist Fakt!
Denn, und damit sind wir schon beim zweiten Punkt, für den Regentänzer ist sein Weltbild ebenso plausibel wie für den Homöopathen das seine. Aufrechterhalten lässt sich das aber nur, wenn ich Kritik mit Ignoranz begegne und Informationen allein danach beurteile, ob sie ins das eigene Weltbild passen oder nicht. Und diese Tendenz, die mit dem Ende der Rationalität gleichzusetzen ist, obgleich sie oft nur partiell ausgeprägt ist, scheint immer mehr um sich zu greifen.
Natürlich erfreut sich so ein Unsinn wie Horoskope (erst recht zum Jahreswechsel) nach wie vor ungebrochener Beliebtheit und der Boulevardjournalismus bedient sich seit jeher jener Methoden, die wir auch bei Fake-News im Internet beobachten können. Aber die Tragweite ist heute ungleich größer.
Und damit 2017 nicht ein weiteres Bullshit-Jahr wird, schlage ich für das neue Jahr drei Vorsätze vor:
1. Wir müssen gegen die Gefahr der Abstumpfung eine neue Sensibilität für Bullshit entwickeln, um ihn auch als solchen zu erkennen.
2. Wir müssen den Mut haben, den Teufel beim Namen zu nennen, auch wenn mancher Bullshit noch so verbreitet und noch so anerkannt sein mag.
3. Wir müssen uns in konstruktiver Kritik üben, v. a. in Kritik an uns selbst.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein möglichst bullshitarmes Jahr 2017!
Ihr
Michael Marquardt
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Zitat
So viel ist gewiß: wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer alles dogmatische Gewäsche,
womit er vorher aus Not vorlieb nahm, weil seine Vernunft etwas bedurfte und nichts Besseres zu ihrer Unterhaltung finden konnte.
Immanuel Kant
(1724-1804)
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